Es war einmal, da spielte Lew auf dem Kinderspielplatz. Eigentlich ging er bereits zur Schule und war der Überzeugung, an Spielplätzen kein Interesse mehr zu haben – er war schließlich schon erwachsen. Aber an jenem Tag fiel ihm ein großes, buntes Gerüst ins Auge, er hielt sein Fahrrad an, nahm den Rucksack ab, warf ihn zu Boden und fing an zu spielen. Und genau in diesem Moment machte sich die böse Hexe über seine Sachen her. Sie hatte darin etwas entdeckt, was ihr sehr wichtig vorkam, und beschloss es zu stehlen. Dabei interessierten sie weder das Fahrrad noch die Schulbücher, weder der Rest, der vom Mittagessen übriggeblieben war, noch die Packung Nüsse. Die Hexe stahl Lew seine Wünsche. Das geschah so schnell, dass niemand es bemerkte. Sie kam, nahm sich die Wünsche und verschwand wieder. Sie stopfte sich jedes Fitzelchen davon in die Jacke, unter die Bluse und in die Handtasche. Ließ nicht das kleinste Bisschen zurück. Innerhalb eines Moments verlor Lew jedwedes Interesse an dem Spielplatz. Er verstand, dass er für solchen Kinderkram schon zu groß war. Er hatte eigentlich einen anderen Jungen kennenlernen wollen, um miteinander fangen zu spielen, aber auch die Idee kam ihm jetzt langweilig vor. Mit einem Mal war für ihn alles ringsherum grau. Er ging zu seinem Fahrrad.
Lew bemerkte gar nicht, dass seine Wünsche verschwunden waren. In der Schule war es ihm auch vorher langweilig gewesen, auch Essen hatte er bis jetzt nie geliebt. Aber nun wollte er nicht einmal mehr Chips, Burger oder Cola haben. Bücher und Filme, die Geschichten seiner Eltern oder anderer Leute interessierten Lew nicht mehr. Er wollte nur noch herumliegen und an die Decke starren. Er konnte nicht mehr ganz verstehen, warum er eigentlich in die Schule gehen sollte, wo es da doch so langweilig und grau war. Wozu Gedichte auswendig lernen, wozu Bilder malen, wozu Aufgaben lösen.
Während Lew selbst nicht verstand, dass die Hexe seine Wünsche gestohlen hatte, begannen seine Eltern etwas zu bemerken und sich Sorgen zu machen. Sie besprachen das Verhalten ihres Sohnes bei geöffnetem Küchenfenster.
„Früher hat er meine Torten so geliebt, und heute hat er nicht einmal aufgegessen.“
„Früher hat er wochenlang darauf hingefiebert, dass wir zusammen Fahrradfahren gehen. Aber gestern habe ich ihn kaum in den Sattel bekommen.“
„Was sollen wir nur tun?“, fragte seine Mama beunruhigt.
Zu ihrem Glück belauschte die Fee Gabriella dieses Gespräch. Sie verstand sofort, was passiert war. Schon lange bemerkte sie bei ihren Flügen durch die Stadt die Spuren der Arbeit der Hexe, die den Kindern ihre Wünsche stahl. Die Fee musste dann alles reparieren und richtigstellen, musste den Kindern die Fähigkeit zu wünschen zurückgeben. Schließlich sind die Wünsche der größte Schatz eines jeden Menschen. Also flatterte Gabriella schnell zu Lew los. Der lag im Bett und schaute auf seinem Handy ein Video an.
„Na hallo!“, sagte die Fee zu Lew.
„Was bist du denn? Ein Schmetterling, der sprechen kann?“, sagte Lew.
„Genau genommen bin ich eine Fee, ich heiße Gabriella. Und ich weiß, dass du ein großes Problem hast. Die Hexe hat dir deine Wünsche gestohlen.“
„Na und? Vielleicht habe ich die auch gar nicht gebraucht?“
„Siehst du, das ist das erste Zeichen dafür, dass du keine Wünsche mehr hast. Du willst sie nicht einmal zurück! Es ist strengstens verboten, jemandem seine Wünsche zu stehlen, denn das ist das Schlimmste, was einem passieren kann! Besonders einem Kind! Die Wünsche bringen einen dazu, sich zu bewegen, zu leben, sich zu freuen! Ohne deine Wünsche wächst du sogar langsamer!“
„Dann freu dich doch, dass du Wünsche hast. Mir geht es auch so ganz gut.“
„Du hast doch gar keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast!“, sprach die Fee.
„Vor deiner Hexe habe ich keine Angst.“
„Ich meine doch nicht die Hexe! Ich meine mich! Ich bin ziemlich störrisch! Und jetzt, wo wir uns schon getroffen haben, werde ich dir auch deine Wünsche zurückgeben. Danach kannst du damit machen, was du willst. Dann kannst du sie ignorieren, sie loswerden, dir andere suchen.“
„Und was muss ich tun, damit du mich in Ruhe lässt?“, fragte Lew böse.
„Hier – nimm dieses Täschchen und leg es vor dem Schlafen unter dein Kopfkissen. Wenn du einschläfst und zu träumen anfängst, nimm im Traum das Täschchen und leg alles hinein, was dir vor die Augen kommt. So kannst du deine Wünsche zurückbekommen.“
Genau so machte es Lew. Eigentlich interessierte ihn die ganze Idee überhaupt nicht, aber die Fee sah wirklich fuchsteufelswild aus, als wäre sie bereit loszuschreien. Da war es leichter, ihr nachzugeben, schließlich hatte er erst recht keine Lust sich zu streiten. Also legte Lew das Säckchen unter sein Kopfkissen, schlief ein und öffnete im Traum die Augen. Er fühlte sich gut, ganz leicht und ruhig. Lew saß auf einer Wolke, doch um ihn herum gab es nichts, was er in sein Täschchen hätte legen können. Nur andere Wolken. Lew begann mit den Händen zu wedeln, um sich wenigstens ein bisschen fortzubewegen, und da erblickte er auf einer anderen Wolke einen von Mamas Kuchen. Er roch sehr lecker. Also legte Lew den Kuchen in sein Täschchen und hoffte, dass das für die Fee genug wäre und sie ihm nicht mehr auf die Nerven gehen würde.
Am nächsten Tag wachte Lew auf und schaute unter sein Kissen. Er hatte gehofft, dass er dort den Kuchen finden würde, den er im Schlaf in das Täschchen gelegt hatte. Aber da war kein Kuchen. Das machte Lew sehr betrübt, denn plötzlich verspürte er in sich den starken Wunsch, einen von Mamas Kuchen zu verspeisen. Er begann sich zu ärgern, dass er nicht aufgegessen hatte, als Mama frisch gebacken hatte. Und begann darüber nachzudenken, wann Mama wohl wieder backen würde. In nächster Zeit gab es keine Geburtstage, auch keine Feiertage. Ihm blieb nur eine Möglichkeit, wollte er möglichst bald in einen Kuchen beißen – er musste seine Mama bitten, einen zu machen.
„Mami, kannst du heute Abend einen Kuchen backen?“, fragte Lew.
„Natürlich!“, seine Mama freute sich, dass der Appetit ihres Sohnes zurück war und ging in die Küche, um nachzusehen, ob alle Zutaten da waren. Und Lew ging zufrieden in die Schule. Er hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen – die Fee war er los, und er bekam einen Kuchen.
Am Abend beobachtete Lew sein geöffnetes Fenster und befürchtete, dass die Fee darin auftauchen würde. Aber sie kam nicht. Irgendwann später am Abend atmete er also auf, als er sich sicher war, dass er das aufdringliche Biest nicht mehr sehen würde. Aber genau in dem Moment, als dieser Gedanke seinen Kopf kreuzte, kam die Fee hereingeflattert.
„Na? Was hast du in dein Täschchen gelegt?“, fragte sie Lew anstelle einer Begrüßung.
„Einen Kuchen von Mama“, brummte Lew unzufrieden. Er mochte es gar nicht, wenn jemand ihm Vorträge hielt oder beibringen wollte, wie er zu leben hatte.
„Ein Kuchen – das ist natürlich super. Aber ist das etwa alles?“, fragte die Fee verärgert. „Du hättest hineinlegen können, was immer du willst! Einen Flug ins Weltall, einen Sieg beim Fußballturnier, eine Reise auf eine warme Insel. Und dir reicht ein Kuchen? Ich will mal hoffen, dass du heute Nacht ein paar interessantere Wünsche in das Täschchen legst, vor allem große Wünsche und vielleicht sogar ein paar deiner Träume!“
Also musste Lew wieder auf der Wolke herumwedeln und eine neue Ernte einfahren. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er da im Traum aufsammeln sollte. Es kam ihm vor, als sollte der Kuchen vollkommen ausreichend sein, mehr wollte er doch gar nicht. Er konnte nicht verstehen, warum die Fee Probleme machte. Außerdem waren ihre Ideen mit dem Weltraumflug und den Sieg beim Turnier ziemlich groß und unerreichbar. Solche Wünsche wollte er nicht haben. Auch schien es Lew, dass sie gar nicht in das Täschchen passen würden. Also legte er in dieser Nacht eine Coca-Cola hinein, neue Spiele für sein Handy, eine Pizza und eine Ladung Sushi, eine Packung Chips und neue Turnschuhe.
Wieder verging ein Tag und es wurde Abend. Lew war klar, dass die Fee wieder unzufrieden sein würde. Deswegen schloss er das Fenster und machte das Licht aus. Auf seinem Tisch stand die leere Colaflasche und in seinem Handy wartete das neue interessante Spiel. Er versteckte sich unter der Decke und begann zu spielen, wobei er hoffte, dass Gabriella ihn hier nicht finden würde. Aber, schlau wie sie war, flatterte sie durch den Spalt zwischen Tür und Boden hindurch. Dann kam sie zu ihm unter die Decke und setzte sich Lew auf das Handy.
„Keine schlechte Ernte, aber es fehlt an Abwechslung. Nichts als Essen. Ich habe mehr erwartet. Bist du eigentlich selbst zufrieden mit solchen mickrigen Wünschen?“
„Nicht wirklich. Ich hätte gerne neue Turnschuhe, aber meine Eltern haben nicht genug Geld dafür. Ich will Chips essen, aber Mama erlaubt es mir nicht. Ich verstehe nicht wirklich, was solche Wünsche für einen Sinn haben.“
„Manchmal müssen Wünsche genau so sein – schwer zu erfüllen. Wenn du zum Beispiel in der Schule gut aufpasst, dann kannst du bei der Matheolympiade gewinnen, den Geldpreis einfahren und dir dann selbst die Turnschuhe kaufen. Wünsche lassen euch Menschen ausgetretene Pfade verlassen und Fortschritte machen. Deswegen sind alle eure Wünsche so unfassbar wichtig.“
„Aber je unerfüllbarer ein Wunsch ist, desto schwerer ist er zu tragen.“
„Wer hat dir denn das gesagt? Hast du dir im Traum auch nur einen deiner Meinung nach unerfüllbaren Wunsch genommen?“
„Nein, die habe ich liegen lassen.“
„Na, dann versuch es doch mal! Du wirst dich wundern, aber im Traum sind alle Wünsche leicht.“
„Aber in das Täschchen passen doch gar nicht so viele Wünsche, selbst wenn sie leicht sind.“
„Im Traum geht alles! Da passt gern eine Million Wünsche in dein Täschchen. Grenzen gibt es nur in dieser Welt. In der Traumwelt gibt es keine.“
„Ich werde es versuchen.“
„Denk nur daran, dass ich dir das Täschchen morgen früh für immer wegnehmen werde. Die böse Hexe stiehlt jeden Tag die Wünsche anderer Kinder. Die brauchen mein Zaubertäschchen auch. Also nimm heute Nacht so viele Wünsche wie möglich mit. Und vergiss deine Träume nicht! Unrealistische und unerreichbare, an die niemand glauben würde! Greif dir ein paar davon, die sind so wichtig!“
Lew gehorchte der Fee. In dieser Nacht gab er sich große Mühe und legte wirklich viele Wünsche in das Täschchen. Den Wunsch, ein Buch zu lesen, den Wunsch, sich die Haare zu waschen, den Wunsch, Papa beim Autoreparieren zu helfen, den Wunsch, Sport zu machen. Lew sah im Traum das Weltall und war sich sicher, dass es zu schwer sein würde und nicht in das Täschchen passen würde. Aber es stellte sich heraus, dass im Traum alles leicht war, sogar das Weltall. Also legte Lew das Weltall und die Sterne in das Täschchen, die Tiefen des Ozeans und ferne Dschungel, Wüsten und Gletscher. Er legte von ihm gemalte Bilder und selbstgeschriebene Bücher hinein, Sprachen, die er gelernt, und Medikamente, die er entwickelt hatte, den Weltfrieden und das Ende allen Hungers. Wirklich – alles passte in das Täschchen.
Als Gabriella wieder zu Lew kam, war sie sehr zufrieden. Sie bemerkte, dass sich unter der großen Menge an Wünschen, die Lew sich geholt hatte, auch der Wunsch war, sie wiederzusehen. Die Fee schmunzelte.
„Wir sehen uns auf jeden Fall wieder! Am wichtigsten ist aber, dass du deinen Wünschen nachgehst. Die sind der beste Kompass und führen dich zum Glück. Und bitte, verlier deine Wünsche nie wieder.“
Von da an änderte sich Lews Leben von Grund auf. Er hatte verstanden, wie sehr seine Wünsche das Leben erst interessant machten und wie wichtig es war, sie nirgendwo zurückzulassen, sie niemandem zu überantworten und sie nicht zu verlieren – und außerdem sicherzugehen, dass keine Hexe sie jemals stahl.
von Margaryta Surzhenko
Übersetzung: Jakob Wunderwald
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